Die
Frühzeit der bürgerlichen Gemeinde Reichenbach 1595 -
1668 (Teil 2): Die Zeit und der Ort |
Im zweiten Teil der Studie soll in zwei Abschnitten die zeitliche und die räumliche Dimension der Frühzeit der bürgerlichen Gemeinde Reichenbach abgesteckt werden. |
1.
Die Zeit: Reformation, Restitution und Krieg Die Entwicklung der bürgerlichen Gemeinde Reichenbach ist aufs engste verbunden mit den großen politischen Ereignissen, denen sie ihre Geburt im Jahre 1595, ihre Gefährdung in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges und ihre Wiedergeburt nach 1648 verdankt. Natürlich hat die gewaltsame Besetzung des kleinen Priorats Reichenbach durch Württemberg weder das Restitutionsedikt noch den langen Krieg verursacht. Doch war von Anfang an klar, dass kriegerische Auseinandersetzungen um die Glaubensfrage und Maßnahmen der Restitution das württembergische Klosteramt Reichenbach nachhaltig treffen mussten. So bietet sich denn die seltene Gelegenheit, in dem vergleichsweise unbedeutenden Ort des oberen Murgtals einen Spiegel der großen europäischen Geschichte zu finden. Tatsächlich markieren die drei bedeutendsten Ereignisse des großen Krieges - der Auftakt 1618, die Restitution des Jahres 1629 und das Ende des Krieges 1648 - entscheidende Etappen auch der Entwicklung der bürgerlichen Gemeinde Reichenbach. Regionale Ereignisse als Folgen der großen Politik - die verlorene Schlacht von Wimpfen 1622, das wechselnde Kriegsglück der Jahre 1631 - 34 und letztendlich die Niederlage bei Nördlingen - versehen die großen Ereignisse eher mit zusätzlichen Akzenten als dass sie eine andere Periodisierung nahe legen. So lassen sich denn für die Entwicklung der bürgerlichen Gemeinde Reichenbach vier Phasen unterscheiden, die durch drei markante Jahreszahlen deutlich voneinander getrennt sind:
Das letzte Datum mag zunächst etwas willkürlich erscheinen. Doch zog das Lagerbuch, indem es alte Rechtsverhältnisse erneuerte, einen Schlussstrich unter die wechselvollen Jahrzehnte zuvor. Auch waren die gröbsten Schäden des Krieges beseitigt und Reichenbach auf dem Weg zum lebendigen Zentrum des Klosteramts. Ungefähr zur gleichen Zeit, im Jahr 1670, wurde der erfolgreiche Wiederaufbau des Herzogtums mit einem großen Fest in Stuttgart gefeiert. Auch die Zeitgenossen empfanden demnach die Jahre um 1670 als glückliches Ende einer unglücklichen Epoche. Bis zum Jahr 1618 haben die neuen Herren wenig getan, um den Aufbau einer Bürgerschaft in Reichenbach zu fördern:
Zwar zählt Reichenbach neben seinen wenigen Bürgern etliche Einwohner mehr (Schaffner, Pfarrer, Lehrer, Pächter). Doch ist der Mangel an Bürgern, namentlich an wohlhabenden Bürgern durch Einwohner nicht auszugleichen. Reichenbach in jener Zeit ist, auf einen Punkt gebracht, das reformierte Kloster ohne Bürger. Die Aktivitäten des Herzogs und seiner Kanzlei beschränken sich vorerst auf die Sicherung des angegliederten Besitzes:
Angesichts dieser Akte der Besitzsicherung ist das Ausbleiben förderlicher Maßnahmen zur Entwicklung der bürgerlichen Gemeinschaft in Reichenbach besonders auffällig. Der Gedanke ist vielleicht nicht abwegig, dass die benachbarte Freudenstadt die ganze Aufmerksamkeit ihres fürstlichen Gründers beanspruchte. Auch seinen Besuch in Reichenbach (1604) hatte Herzog Friedrich dazu benutzt, die Verlagerung von Kunstwerken aus dem Kloster in seine geliebte Stadt zu veranlassen (V). Unter Friedrichs Sohn und Nachfolger (seit 1608), dem Herzog Johann Friedrich, änderte sich an dieser Politik zunächst wenig. Erst nach 1618 - wie es scheint, durchaus vor dem Hintergrund der beginnenden kriegerischen Auseinandersetzungen und in der Folge unter dem Eindruck der für die Protestanten verlorenen Schlachten am Weißen Berge (1619) und bei Wimpfen (1622) - erst nach 1618 also wandelt sich die bürgerliche Gemeinde Reichenbach von Grund auf. Jetzt unternimmt die herzogliche Kanzlei in Stuttgart erhebliche Anstrengungen, die vier großen Güter des Klosters und auch weiteres Klostergut zu verkaufen. Unter den großen Gütern gelingt der Verkauf nur bei der Klostermühle (zuerst 1621), die anderen werden erneut verpachtet (1620/21) - die beiden Meierhöfe gegen Höchstgebot, was zu einem kräftigen Anstieg des Pachtzinses führt (XI, XIII). Wichtiger aber für die gemeindliche Entwicklung Reichenbachs war der Verkauf von kleineren Gütern, namentlich von Bauplätzen ("Hofstätten") außerhalb der Ringmauer vor den beiden Toren. Zwischen 1620 und 1626 werden neun Objekte an eingebürgerte Handwerker verkauft (XII, XIII). Die Zahl der Bürger nimmt rasch zu: bis 1629 verlängert sich die Bürgerliste (VIII) auf knapp 40 Personen (darunter auch nachgewachsene Söhne älterer Bürger). Die Schützenliste des Jahres 1625 wird von Reichenbach angeführt, der Ort stellt mittlerweile sieben Schützen (XLIII). Diese günstige Entwicklung der bürgerlichen Gemeinde Reichenbach in den zwanziger Jahren wird durch das kaiserliche Restitutionsedikt (1629), den Fortgang der kriegerischen Auseinandersetzungen, die nun bald auch das Kloster erreichen (1631/32), und schließlich durch die Pest (1635) nachhaltig unterbrochen. Von den ursprünglich neun, später - nach der Weitergabe eines Besitzes - zehn Handwerkern, die ab 1620 Besitz in Reichenbach erworben haben, finden wir nach 1629 nur noch einen (XVIII, L). Nun sind diese Veränderungen weder ausschließlich durch die Restitution verursacht, noch fallen sie alle exakt in das Jahr 1629. Was genau 1629 geschah, ist kaum rekonstruierbar. Es gibt Anzeichen dafür, dass in einem von acht Fällen der Besitzerwechsel mit der Glaubensfrage zu tun hatte: im Falle des Bäckers Günna (Teil 3.2). Darüber hinaus ist die Klostermühle, die ja vom württembergischen Herzog verkauft worden war, 1629 wieder in Händen des Klosters - vielleicht als Akt der Restitution (XVIII). Andere Veränderungen können rein wirtschaftlicher Natur gewesen und schon vor 1629 erfolgt sein: der Maurer Christian Bitsch (Teil 3.2) musste den 1621 erworbenen Besitz bereits 1626 wieder verkaufen (G. Wein, 1982, S. 59); auch die Besitzer der Klostermühle scheinen vor 1629 in wirtschaftliche Schwierigkeiten gekommen zu sein (H. Rommel, 1968). So mag es weitere Fälle geben. Das markante Jahr 1629 ist daher zwar Wendepunkt der Entwicklung, aber nicht ausschließlich Quelle der Veränderungen. Die Auswirkungen des kurzen Zwischenspiels der Jahre 1631 bis 1634, das mit dem Aufstieg des Schweden-Königs Gustav Adolf begann und mit der Niederlage der Protestanten bei Nördlingen endete, auf die Bürgergemeinde Reichenbachs sind anhand der wenigen überlieferten Quellen nicht recht zu erkennen. Erkennbar sind die Einwirkungen von außen (XLII): die Überfälle der Schweden und der mit ihnen verbündeten Württemberger (1631/32) sowie die Vertreibung (1632) und Wiedereinsetzung (1634, spätestens 1635) des Priors. Nicht erkennbar ist, ob und inwiefern diese äußeren Einwirkungen die Entwicklung der bürgerlichen Gemeinde (z.B. durch Verarmung, Vertreibung oder Tod) beeinflusst haben. Völlig im Dunkeln liegen die Folgen der Pest des Jahres 1635. Leider beginnt das Totenbuch von Reichenbach erst 1638, so dass die wichtigste Quelle für Sterbefälle gerade für das Jahr 1635 fehlt. Es gibt aber Indizien dafür, dass es in dieser Zeit, jedenfalls vor 1638, zu vermehrten Todesfällen gekommen ist, deren genaue Ursache wir freilich nicht kennen. Es scheint aber so, dass in dieser Zeit zwei der frühen Reichenbacher Familien aussterben: die Familien Rösch und Stoll, die im Bürgerbuch (VIII) bis 1628 mit 5 Personen vertreten und auch nach 1629 zunächst noch nachweisbar sind (XVIII). Doch sind die Jahre des Krieges und der Pest eher Ausdruck des wechselvollen Geschehens jener Zeit als wirkliche Wendepunkte. Ein solcher wird erst wieder mit dem Jahr 1648, dem Jahr des Westfälischen Friedens, erreicht. Das Klosteramt fällt an Württemberg zurück, das seinen Schaffner wieder einsetzt und auch wieder einen evangelischen Pfarrer. Die Bitte einiger Bürger, den katholischen Glauben behalten zu dürfen, wird zwar abgelehnt, andererseits übt Württemberg bis 1656 wenig Druck zum Glaubenswechsel aus (G. Wein, 1982, S. 58). Insoweit es also unmittelbar nach 1648 zu personellen Veränderungen in der bürgerlichen Gemeinde Reichenbachs kommt, liegen ihre Wurzeln weniger in der Glaubensfrage als vielmehr in den desolaten wirtschaftlichen Verhältnissen und gelegentlich wohl auch in einer gewissen Nähe einiger Bürger zu den vorhergehenden Herren. Dazu je ein Beispiel:
Übrigens geht 1651 keines der vier Klostergüter an die alten Pächter (XXI). Betrachten wir die Schützenlisten der Jahre 1655 bis 1658 (XLIV), dann stellen wir fest, dass sich mindestens sieben der fünfzehn aufgeführten Schützen erst nach 1648 in Reichenbach niederließen. Umgekehrt begegnen uns von den 16 Personen, die neben den großen Pächtern, Beamten und Konventualen in der Zeit von 1629 bis 1648 nachweisbar sind, nach 1648 nur noch vier (XVIII, XLIV, L). Danach aber, insbesondere nach dem Jahr 1651, scheint sich die bürgerliche Gemeinde Reichenbach endgültig zu formieren, wobei die Besitzer der vier privatisierten großen Klostergüter besonders stabilisierend wirken. Insgesamt gesehen mag daher das Jahr 1668 mit dem neuen Lagerbuch tatsächlich den Wiederaufbau des Ortes und die Erneuerung geregelter Rechtsverhältnisse abschließen. Am Ende eines Abschnittes, der die zeitliche Dimension des Geschehens reflektiert, mögen noch ein paar Bemerkungen zur Datierung am Platze sein. Bis zum Jahr 1582 galt einheitlich in Europa der Julianische Kalender, dessen Jahr gegenüber dem Sonnenjahr leicht abwich: er ging sozusagen nach, mittlerweile 10 Tage. Die Gregorianische Kalenderreform näherte das bürgerliche Jahr mehr dem Sonnenjahr an und beseitigte die eingetretene Verspätung: auf den 4. Oktober 1582 folgte sogleich der 15. Oktober. Den neuen Gregorianischen Kalender übernahmen jedoch zunächst nur die katholischen, nicht aber die protestantischen Länder. Theoretisch müsste sich also bei jedem Glaubenswechsel in Reichenbach, insgesamt waren es ja fünf, auch der Kalender geändert haben. Ob das wirklich so war, ist nicht erkennbar, für unsere Zwecke meistens auch unerheblich. So beschränken wir uns bei Datierungen in der Regel auf das Jahr oder den Monat. Kommt es aber auf das exakte Datum an, so muss man sich Rechenschaft darüber ablegen, welcher Kalender zugrunde liegt. Erst im Jahr 1700 führten auch die protestantischen Länder den Gregorianischen Kalender ein und sorgten für eine einheitliche und relativ genaue Zeitrechnung. |
2. Der Ort: Kloster, Ringmauer und
Feldmark Grob gesehen, trennt die Ringmauer das Kloster und seine Nebengebäude von der offenen Feldmark (Foto). Der Schaffner Johannes Gaiser fügt einem Brief vom April 1604 (V), der den Besuch des Herzogs vorbereitet, eine Skizze Reichenbachs bei, die leider seit 1981 verloren ist. Auf dieser Skizze erscheint das Kloster schon 1604 vollständig von einer Mauer umgeben. Nach seinem Besuch im Juni 1604 ordnet Herzog Friedrich gleichwohl schriftlich an, dass die Mauer vom Bindthaus bis zum alten Viehhaus (das ist die komplette Ostmauer) "ergäntzt" werden soll (V). Das heißt ohne jeden Zweifel, dass sie im Juni 1604 den Ort noch nicht vollständig umschließt. Aus der Abrechnung von Fronfuhren (XXIII) wissen wir, dass nach 1604 in der Tat an der Ringmauer gebaut wurde: abgerechnet wurden über 500 Fuhren von Steinen und anderen Baumaterialien aus Schopfloch, die auf eine Baumaßnahme größeren Umfangs hinweisen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass es sich um den vom Herzog veranlassten Bau der Ostmauer handelt. Die Abrechnung von Fronfuhren ist leider undatiert (das Staatsarchiv in Ludwigsburg datiert ersatzweise "um 1600"), doch lässt sich die Zeit ihrer Entstehung etwas eingrenzen: Conrad Klumpp wird als Bürger von Röt entlohnt, im Schätzungsregister vom Dezember 1607 (XLVI) ist er jedoch noch Bürger von Igelsberg (Randnotiz im Register: "wont itzund zue Röht") - demnach muss die Abrechnung nach dem Dezember 1607 erfolgt sein. In Huzenbach werden Fronfuhren abgerechnet mit Hans Stribich, der jedoch im Juni 1609 stirbt (LI) - demnach muss vor dem Juni 1609 abgerechnet worden sein. Erst um das Jahr 1608 wird also die Ringmauer um die Ostmauer ergänzt. Was aber ist falsch an der Skizze des Schaffners? Vermutlich überhaupt nichts: wenngleich es die Ostmauer 1604 noch nicht gab, kann und wird es doch eine Einfriedung, einen Zaun oder eine Hecke im Osten gegeben haben, die den "Etter", das ist der besonders geschützte Dorfbezirk, vom offenen Feld abgrenzte. Der Schaffner hätte demnach in seiner Skizze die befestigte Mauer, die zu drei Vierteln das Kloster umgab, und die unbefestigte Einfriedung nicht unterschieden. Dass es 1604 bereits Mauern gab, scheint unzweifelhaft, denn der Herzog befiehlt ausdrücklich ihre Ergänzung. Die Frage ist, wie alt die 1604 schon vorhandenen Mauerteile sind. Abweichend von der herkömmlichen Auffassung, die den Bau der Ringmauer insgesamt der württembergischen Zeit zurechnet, scheint mir die Hypothese diskutabel, dass die 1604 vorhandenen Mauerteile wesentlich älter sind. In dem bereits zitierten Brief vom Juni 1604 ordnet der Herzog auch an, dass die beiden vorhandenen Tore verschließbar gemacht werden sollen. Er nennt die beiden Tore ganz unbefangen das "Ochßenthor" und das "Weyherthor" - gewachsene, einprägsame Namen, die kaum in den neun Jahren württembergischer Besetzung erst entstanden noch dem Herzog in so kurzer Zeit geläufig geworden sein können. Wären die Mauer und ihre Tore wirklich neu, dann hätte der Herzog viel eher von dem oberen und unteren Tor gesprochen, zwei Namen, die es ja auch gab. Bevor wir die Frage nach der Existenz eines dritten Tores in der neu gebauten Ostmauer diskutieren, wollen wir zunächst erörtern, welche Wege die beiden gesicherten Tore eröffneten. Durch das untere oder Weihertor führte die Straße nach Heselbach, von der nach gut 100 m die "Musbacher Steig" nach Osten abging (Foto). Die Straße durch das obere oder Ochsentor, das im Südwesten lag, gabelte sich gleich vor dem Tor (Foto). Der eine Zweig zog nach Westen zu einer Murgbrücke, die durch die Skizze des Schaffners Gaiser bezeugt ist. Jenseits der Brücke bog der Weg nach Norden und führte der Murg entlang nach Röt. Diese alte "Röter Straße" ist 1668 im Lagerbuch (XXXV, S. 280) und kartografisch 1751 im "Mühlenplan" (XXXVIII) bezeugt, wahrscheinlich aber viel älter. Folgt man dem Mühlenplan (Ausschnitt), dann gab es 1751 jenseits der Murg keinen Fahrweg nach Süden zu den Höfen im Tonbach; belegt - im Lagerbuch von 1668 (S. 234) - ist aber ein Fußweg, der wahrscheinlich sehr alt ist. Eine Karte (Ausschnitt) des Kartografs Johann Oettinger aus der Zeit kurz nach 1600 (XXXIX) scheint neben der Röter Straße nach Norden auch eine Straße nach Süden nachzuweisen, doch mag es sich auch um einen Fußweg handeln. Der andere Zweig der Straße durch das Ochsentor führte dicht an der Mauer bergauf nach Südosten und teilte sich bald erneut: nach Süden in die Baiersbronner und nach Osten in die Dornstetter Straße. Beide Straßen sind 1624 belegt in der Lagebeschreibung der "Hofstatt" von Andreas Schneider (Teil 3.2). Vergleicht man den Mühlenplan des "Herrschaftlichen Werckmeisters und Mühlenvisitators" Johann Wilhelm Götz aus Ludwigsburg mit der ersten exakten Flurkarte aus der Zeit um 1840 (LII), dann findet man im Verlauf der Südmauer wenig Übereinstimmung: Sie verläuft im Mühlenplan (Ausschnitt) schnurgerade statt im leichten Bogen und verlegt damit das Ochsentor zu weit nach Norden; so gerät der alte Reichenbach, dessen Südwand normalerweise einen Teil der Mauer bildet, weit vor die Mauer. Der Verlauf der Südmauer im Mühlenplan ist daher korrekturbedürftig. In dem bereits zitierten Befehl des Herzogs aus dem Jahr 1604 wird mit der Ostmauer auch die Errichtung eines dritten Tores, des "Neuthores", gefordert. Wurde dieses Tor damals gebaut? Die Darstellung des Ortes Reichenbach auf der Oettinger-Karte (Ausschnitt) zeigt tatsächlich im Osten zwischen den beiden Armen des Reichenbachs ein Tor. Wenn die Karte nach 1608 entstanden ist, was möglich, aber nicht sicher ist, dann könnte es sich tatsächlich um das erbaute dritte Tor handeln. Doch ist die Darstellung der Ortschaften auf der Oettinger-Karte nicht sehr genau und wahrscheinlich eher symbolisch als realistisch gemeint. Auffallend ist ja auch, dass durch dieses Tor kein Weg führt. Auch der Mühlenplan enthält keinen Weg durch ein Tor der Ostmauer. Schließlich ist nicht recht erkennbar, welche neuen Wege ein Osttor hätte eröffnen sollen, alle Richtungen waren ja bereits erschlossen. Diese Erörterung führt zu dem Ergebnis, dass das Neutor in der Ostmauer wohl nie gebaut worden ist (so schon H. Rommel, 1957). Merken wir noch an, dass die vom Herzog gewählte Bezeichnung "Neuthor" unsere Hypothese stützt, dass die beiden anderen Tore vermutlich deutlich älter sind. Er nennt das dritte Tor im Jahr 1604 kaum das neue, wenn die beiden anderen Tore nur ein paar Jahre älter sind. Letzten Endes kann aber nur ein intensives Studium älterer Quellen, eventuell auch eine Grabung Aufschluss über das wahre Alter der 1604 bereits vorhandenen Teile der Ringmauer geben. Die Hauptgebäude des Klosters - bestehend aus der Klosterkirche und den drei Flügeln - bilden offenbar noch 1668 ein geschlossenes Viereck (Klausur): im Lagerbuch (S. 93) besteht das Kloster neben der Kirche aus dem "vorderen, mittleren Und hinderen Gebäw". Bewohnt, durch den Schaffner, ist jedoch nur das vordere Gebäude - der Westflügel, der auch am längsten erhalten blieb (Foto). Der Süd- und der Ostflügel, das mittlere und das hintere Gebäude, sind 1668 unbewohnt. Sie sind, einem Bericht des Schaffners aus dem Jahr 1663 zufolge, erheblich beschädigt und reparaturbedürftig (XXIV). 1751, im Mühlenplan, ist der Ostflügel ganz und der Südflügel zur Hälfte verschwunden. Der Gefängnisturm, der noch heute südlich der Klosterkirche steht (Foto), stammt aus dem 16. Jahrhundert. Er war nicht Teil der Klausur, sondern lag in einer gedachten südlichen Verlängerung des Ostflügels, also etwas abgesetzt von der Südostecke der Klausur (D. Hahn, 1982, S. 71). Im Lagerbuch von 1668, das ist merkwürdig, wird der Turm nicht erwähnt: vielleicht ist er zerstört. Die Klausur des Klosters liegt nicht in der Mitte des von der Ringmauer umschlossenen Ortes, sondern ist nach Nordosten verschoben (vgl. dazu und zum folgenden auch den Lageplan der Gebäude um 1620). Geht man von diesem Punkt im Uhrzeigersinn voran, so trifft man im wesentlichen auf die folgenden Gebäude (XXXV):
Außerhalb der Ringmauer stehen bis zum Jahr 1620 wahrscheinlich nur vier Gebäude, davon drei vor dem unteren Tor und eines vor dem Ochsentor: ·
Während bis 1620 außerhalb der Ringmauer mit wenigen, eben genannten Ausnahmen nur Feldstücke des Klosters lagen, kommt es nun zu neuen Ansiedlungen jenseits der Mauer (XII, XIII). Zwischen 1620 und 1626 werden vor dem Ochsentor acht "Hofstätten" (Bauplätze) verkauft, die aber nicht alle auch bebaut worden sein müssen. Wir können vor dem Ochsentor drei Lagen unterscheiden:
Über die Lage eines weiteren Gebäudes besteht Unklarheit. Nach dem Besuch Reichenbachs im Jahr 1604 hatte Herzog Friedrich auch angeordnet (V), das baufällige Waschhaus, das im "Bezirckh" zwischen Bindthaus und Reichenbach steht, neu zu bauen und das obere Stockwerk als Schießhaus für die Büchsenschützen der Klosterdörfer herzurichten (allerdings, so vermerkt der sparsame Herzog in Klammern: "uff der Dörfer Kosten"). Dieses "Schieß- und Waschhaus" ist offenbar auch gebaut worden, denn 1626 wird es von Herzog Johann Friedrich, dem Nachfolger Friedrichs, verkauft und zwar an den Hafner Thomas Hildenbrandt (Teil 3.2). Die Lage des Schieß- und Waschhauses wird so beschrieben: "einerseits uff des Closters Ringmauer Andererseits an Johann Neuffers gewesenen Schaffners Mühlgarten gelegen, hinden an erstgedachten garten, vornen uff die Allmeindt stoßendt" (XIII). Wie wir im Teil 5.1 genauer sehen werden, hat sich der Schaffner Johannes Neuffer 1625 zugunsten seines Bruders Jacob - wie wir heute sagen würden - beurlauben lassen (XV). Er bleibt als "Inspektor" weiter in Reichenbach und kauft 1626 "Ain Viertel Von Unsers Closters Kuchin- und Grasgarten" (XVI). Der Klostergarten (Lagerbuch 1668: "Kuchin-, Bohm- und Graßgarth", S. 94) steht den Schaffnern als Teil ihrer Besoldung zur Verfügung. Der ältere Schaffner Johannes Neuffer, der das Nutzungsrecht 1625 verloren hat, kauft nun ein Viertel Morgen des Gartens. Ist das des "gewesenen Schaffners Mühlgarten"? Der Mühlgarten liegt tatsächlich (XVI) neben dem Klostergarten. Dessen Lage wird 1668 so beschrieben (S. 94): "liget an dem Closter, und stost oben an die Rinckmauer, Vornen auff die Allmeindt, und hinden wieder an die Rinckmauer". Der Garten darf aus dem "Mühlgraben" gewässert werden - allerdings nur so, dass die Wasserrechte des Müllers und des Ochsenmeiers nicht geschmälert werden. Aus dieser Regelung ist zu schließen, dass der Klostergarten oberhalb der Klostermühle liegt. Die Ringmauer, an die er "oben" stößt, ist dann die Ostmauer. Im Lagerbuch von 1668 besitzt der Bäcker Hans Keck ein Haus mit Garten innerhalb der Ringmauer, das bei der Klostermühle an dem "Mühlgärtlin einer- und anderseits an dem Clostersgarthen" liegt und "hinauff über denn mihlbach an die ringmaur", das ist eindeutig die Ostmauer, stößt (S. 251 f.). Demnach finden wir den Klostergarten, den Mühlgarten und die Ostmauer in unmittelbarer Nachbarschaft. Dort müssen wir auch das neu errichtete und 1626 verkaufte Schieß- und Waschhaus suchen. Es ist wahrscheinlich an alter Stelle neu gebaut worden, denn schon das alte Waschhaus stand ja 1604 im "Bezirckh" zwischen Bindthaus und Reichenbach, also in der Nähe der Ostmauer. H. Rommel (1938/39) kommt zu einer ganz anderen Lokalisation des Schieß- und Waschhauses, die er von einem "Schützenhaus" ableitet, das bis ins 19. Jahrhundert erhalten blieb und zwischen dem (alten) Friedhof und dem Weiher, also außerhalb der Ringmauer vor dem unteren Tor lag. Doch setzt diese Ableitung eine Identität von "Schützenhaus" und "Schieß- und Waschhaus" voraus, die sehr wahrscheinlich nicht gegeben ist. Das Schieß- und Waschhaus wurde, wie wir im einzelnen (Teil 3.2) noch sehen werden, 1626 an Thomas Hildenbrandt verkauft und privat genutzt. Im Lagerbuch 1668 kommt das Schieß- und Waschhaus zumindest unter diesem Namen und der dem Namen entsprechenden Nutzung nicht mehr vor, vielleicht ist es sogar abgegangen: es findet sich nämlich im Lagerbuch kein anderes Gebäude, das eine ähnliche Lagebeschreibung hätte. Die Gastmeisterin Magdalena, Michel Brauns Witwe, besitzt 1668 eine "Hofstatt", also einen Bauplatz, "so zuevor Thomas Hildenbrandt inngehabt" (S. 262). Diese Hofstatt könnte der Platz des Schieß- und Waschhauses sein, wenn dieses vor 1668 abgegangen ist. Doch zeigt die nähere Lokalisation der Hofstatt im Lagerbuch, dass es sich wohl um einen anderen Platz handelt, der "uff dem Marcktwasen vor dem Ochsenthor" liegt. Hatte demnach Thomas Hildenbrandt auch dort Besitz? Ein Besitz Hildenbrandts vor dem Ochsentor ist direkt (also durch Verkaufserlaß oder Kaufvertrag) nicht nachweisbar, wohl aber indirekt. Im Jahr 1624 kauft der damalige Gastmeister Hans Mast, der erste Mann der Magdalena, eine Hofstatt, die so lokalisiert wird: "Zwischen Thomas Hildenbrandten Hafnern unndt der Allmeindt, stost vornen ann die Straßen unndt hinden ann des Closters Ochsen Wisen." (XIII). Wenn die Hofstatt an die Ochsenwies stößt, muss sie vor dem Ochsentor liegen. Nachbar ist Thomas Hildenbrandt. Dessen Besitz vor dem Ochsentor im Jahr 1624 kann nicht identisch sein mit dem Schieß- und Waschhaus, denn dieses wird erst zwei Jahre später, 1626, verkauft (und ist, wie wir gesehen haben, an anderer Stelle zu suchen). Die Hofstatt, die Hans Mast 1624 kaufte, finden wir übrigens auch im Lagerbuch von 1668 (S. 263). Die Gastmeisterin Magdalena verfügt über zwei nebeneinander liegende unbebaute Hofstätten, die eine aus dem Besitz ihres ersten Mannes, Hans Mast, und die andere aus dem Besitz Thomas Hildenbrandts. Dieser müsste seine Hofstatt vor dem Ochsentor spätestens 1624 gekauft haben, was möglich ist, denn Thomas Hildenbrandt huldigt sehr wahrscheinlich 1624 in Reichenbach (VIII). Über das Schieß- und Waschhaus können wir zusammenfassend folgendes festhalten:
Die Lage der Hauptgebäude in Reichenbach innerhalb und außerhalb der Ringmauer kann mit Hilfe der ältesten exakten Flurkarte aus der Zeit um 1840 (LII) rekonstruiert werden (Lageplan). Alle Nebengebäude sind der besseren Übersicht wegen weggelassen. Außerhalb der Ringmauer liegen natürlich vor allem die ausgedehnten Ländereien des Klosters. Aus dem Jahr 1601 existiert eine Aufstellung der "Reichenbacher Feldmessung" (III), die namentlich 17 Feldstücke enthält (Tafel 1): |
Name des Feldstücks 1601 | Größe (Mannsmahd) | Besitzer 1668 |
Gastwies | 8,75 / 8 | Schaffner (2), Pfarrer (4), Schulmeister (2) |
Eselacker | 6 | Klostermühle, Pfarrer |
Kellersacker | 5 | Schaffner |
Hochacker | 7 | Gastherberg ("Hohe Äcker") |
Gastmeisters Hochacker | 6,25 | Gastherberg ("Hohe Äcker") |
Langailwies | 2,25 | Gastherberg |
Breitailwies | 6,5 | Gastherberg |
Brandacker | 2,75 | Schaffner ("Brandau") |
Weiherwies | 5,25 | Gastherberg |
Waldacker | 8,25 | Schaffner (6,25), Reichenbach |
Hintere Wies | 4,75 | ? |
Nötlinstrauf | 14 | Ochsengut |
Ochsenacker | 8 | Ochsengut |
Ochsenwies | 23 | Ochsengut |
Sandacker | 4,5 | Ochsengut |
Ziegelacker | 3,75 / 3 | Reichenbach |
Reichenbach | 34,5 | Reichenbach |
Tafel 1: Feldstücke 1601 und Besitzer 1668 |
Im Lagerbuch von 1668 nicht wiederzufinden ist die "Hintere Wies", statt dessen treten neue Namen auf:
Eine Skizze der Umgebung des Klosters mit den nahe gelegenen Feldstücken, in Anlehnung an die ältesten Flurkarten rekonstruiert, findet man in der Abteilung "Illustrationen". Zum Schluss noch einige Bemerkungen über Zerstörungen während des Dreißigjährigen Krieges. M. Eimer (1931, S. 101) berichtet über fünf zerstörte Gebäude, die jedoch nicht namentlich genannt werden. Doch haben wir bereits gesehen, daß zwei Häuser bis 1668 nicht wieder errichtet worden sind: die Badstub und das Torhäuslein. Das Armen- und Sondersiechenhaus ist offenbar teilweise zerstört, wie die folgende Formulierung im Lagerbuch nahelegt: "Der jenige Platz, welchen das Closter hievor zur erbawung eines Guetleuthauß ... denn armben und Sondersiechen zue gueten ... us guetwilligkeit hergeben, darauff daher ein Armbhauß beraits noch stehet ... Ist deß Closters aigen." (S. 98). Im Lagerbuch 1668 nicht mehr genannt sind, wie berichtet, der Gefängnisturm, das Schieß- und Waschhaus und das Haus zwischen den Straßen nach Baiersbronn und Dornstetten. Das wären dann fünf oder sechs Gebäude. |
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